Verzweiflung, Genialität und Glück: Die spektakuläre Flucht 1979 mit einem Heißluftballon

Mit diesem selbst genähten Heißluftballon flüchten zwei Familien 1979 aus der DDR in den Westen. Das Bild stammt vom 3. Oktober 1990, als man versuchte, den Ballon noch mal aufzublasen. | privat/nh

Fast auf den Tag genau vor 46 Jahren ereignete sich einer der spektakulärsten Fluchtgeschichten aus der DDR in den Westen. Mit einem selbst gebauten Heißluftballon gelang zwei Familien aus dem thüringischen Pößneck bei Gera die Flucht in die Bundesrepublik.

An Bord des Fluggerätes waren in jener Nacht Günther Wetzel, dessen Frau und seine beiden Kinder sowie Peter Strelzyk, ebenfalls mit Frau und zwei Kindern. Beinahe unversehrt landeten die acht Menschen gegen 3 Uhr morgens im bayrischen Örtchen Naila bei Hof.

Seit inzwischen sechs Jahren tourt Günther Wetzel, der inzwischen in Chemnitz lebt, durch Deutschland und erzählt seine Geschichte. Am Donnerstagabend war er auf Einladung des Lions-Clubs Eschwege-Werratal im Bürgerhaus von Reichensachsen. Der Saal war bis auf den letzten Platz gefüllt. „Ich freue mich, dass viele junge Menschen hier sind“, sagte Martina Hossbach von Lions-Club, „um die Geschichte von Mut, Hoffnung und auch Enttäuschung zu hören“.

Spielen Mensch-ärgere-dich-nicht: Günther Wetzel mit seiner Frau und den beiden Kindern. | privat

Eine Geschichte, die von zwei Familien erzählt, die sich wie viele andere in der DDR nicht mit einem Leben voller Repressalien, Unfreiheit, politischer Bigotterie, aber auch schwerer Verfolgung abfinden wollten. Zugleich erzählt es die Geschichte von zwei Männern, die Leidenschaft für Technik, Tüftelei und Erfindungen hatten – Gaben, die in Mangelwirtschaften wie der DDR beinahe überlebenswichtig waren.

Doch Wetzel erzählt zunächst über die DDR – unerlässlich, um zu verstehen, warum Menschen bis zum Äußersten gingen, Gefängnis, Leib und Leben riskierten, um dem System zu entkommen. Er berichtet von der unüberwindlichen Grenze, an der der Schießbefehl galt, von der Überwachung durch die Staatssicherheit, von der Enteignung der Bauern, von der Unmöglichkeit zu reisen. Und er vergisst bei allem auch nicht davon zu erzählen, dass die DDR Kinderbetreuung bot, jedem einen Arbeitsplatz und einiges mehr. Die Menschen sollten sich wohlfühlen – taten es aber nicht.

Als Günther Wetzel Mitte der 1970er verweigert wurde, Physik zu studieren, weil sein Vater 20 Jahre zuvor in den Westen geflohen war, reiften seine Fluchtpläne, ebenso wie die der befreundeten Familie Strelzyk. Und ab da beginnt die Geschichte von zwei Daniels Düsentriebs, die Wetzel mit hintergründigem Humor seinen Zuhörern erzählt.

Den Anstoß gab ein Foto aus Mexiko

Das Initial war eine Zeitschrift aus dem Westen, die eine Verwandte auf Besuch mitgebracht hatte, darin ein Beitrag über ein großes Ballontreffen in Mexiko. Wetzel schaute sich die bunten Fotos von den Heißluftballons an und dachte: „So schwer kann das nicht sein.“ Er maß Personen und Ballons auf den Fotos ab und errechnete mittels Dreisatz deren Größe. Ergebnis: für einen 1800 Kubikmeter fassenden Heißluftballon brauchte er 800 Quadratmeter Stoff, um dann aus 48 Stoffbahnen die Ballonhülle zu nähen. Den benötigten Stoff tauschen die beiden Männer, die als Elektriker arbeiteten, bei dem volkseigenen Betrieb Lederwaren Pößncke gegen einen Kasten Bier ein. „Was Volkseigentum ist, gehört auch uns“, sagt Wetzel schmunzelnd.

Günther Wetzel in Reichensachsen. | Salzmann, Stefanie

Er schneidet Stoffbahnen und näht auf einer alten Nähmaschine mit Fußantrieb die Bahnen zusammen, dafür braucht er Wochen. „Ich hab nur tagsüber genäht, wenn unser Sohn im Kindergarten war und es ausreichend Umgebungsgeräusche gab“, sagt er. Parallel bauen die Männer einen Brenner aus einem Wasserrohr mit Absperrhähnen zum Regulieren, schmieden eine 1,40 mal 1,40 große Plattform für die Gondel, deren „Geländer“ aber nur aus Wäscheleine besteht. Das Gebläse bauen sie aus dem Motor von Wetzels Motorrad. „Das hat richtig Wind gemacht“, sagt er stolz –„im Gegensatz zu den heutigen Gebläsen professioneller Ballons“.

Nachts testen sie den Heißluftballon im Wald, dorthin fahren sie mit dem Auto und einem Anhänger, stoßen auf technische Schwächen. Zum Beispiel fror das Gas einfach ein, weil es zu schnell entnommen wurde. Als sie bei einem ihrer Tests im Steinbruch einen Schatten sehen, flüchten sie und der erste Ballon zerreißt auf der Schotterstraße.

In 2000 Meter Höhe war das Gas alle

Letztendlich gelingt die gefährliche Flucht erst Jahre später mit Ballon Nummer drei, inzwischen deutlich größer und gekonnter gemacht, um acht Menschen zu transportieren.

Peter Strelzyk und seine Familie wagen zwischendurch ohne die Wetzels eine Flucht mit Ballon Nummer 2, die aber wenige Meter vor der Grenze in der Sperrzone auf ostdeutscher Seite endet. Ab da ist ihnen auch die Staatssicherheit auf den Fersen, die den abgestürzten Ballon natürlich findet und genau weiß, was dort geschehen sollte.

Erst der dritte Anlauf der Heißballonflucht gelingt. Die Republikflüchtigen wissen, dass sie Nordwind brauchen und er wird für den 16. September 1979 vom bayrischen Segelflugwetterbericht gemeldet. Eigentlich ist der Ballon nicht ganz fertig, oben klafft ein Loch, das Wetzel dann einfach mit Schnüren verschließt.

Das fand die Stasi nach dem ersten missglückten Fluchtversuch. Das Bild der „Gondel“ stammt aus Wetzels Stasiakte. | Salzmann, Stefanie

Um Mitternacht brechen die beiden Familien zum Startplatz – einer Lichtung im Wald – auf. Beim Start kippt die Gondel, weil eine letzte Seilsicherung sich nicht kappen lässt, der Heißluftballon fängt Feuer, das Günther Wetzel aber schnell löschen kann. Dann starten sie. Nach einer guten halben Stunde schweben sie in mehr als 2000 Metern Höhe gen Westen.

Dann geht der Brenner aus und alle Versuche, ihn wieder zum Laufen zu bringen, scheitern. „Das Gas war alle“, sagt Günther Wetzel. Der Ballon sinkt und sinkt, überfliegt gerade noch einen Hochwald und poltert dann über einer Gebüschreihe zu Boden. Alle vier Erwachsenen und die vier Kinder, das jüngste zwei Jahre alt – sie leben.

Doch wo genau sie sind, und ob sie es in Westen geschafft haben, wissen sie nicht. Erst als sie nachts in eine Scheune schauen und drinnen ein Fend-Traktor, ist klar: „Wir sind im Westen.“ (Stefanie Salzmann)

In der Nähstube: Günther Wetzel (links) und Peter Strelzyk mit dem ersten Ballon aus Taschenfutterstoff. | Salzmann, Stefanie